ISEBEL gräbt in Big Data
Transatlantisches Projekt mit Rostocker Beteiligung
Im Frühjahr 2017 wurden durch die transatlantische Plattform in den Sozial-und Geisteswissenschaften die vierzehn Gewinner der Ausschreibung „Digging into Data Challange“ bekannt gegeben. Ein Team von Forschern der Universität Rostock, des Meertens Instituut in Amsterdam, Niederlande, sowie der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA), USA, zählt zu den Gruppen, die bis zum Frühjahr 2020 gefördert werden. Von der Universität Rostock sind das Institut für Volkskunde und das Institut für Informatik beteiligt.
Der englischsprachige Titel „Intelligent Search Engine for Belief Legends (ISEBEL)“ steht für die Analyse und Suche von Erzählüberlieferungen aus volkskundlichen Sammlungen bzw. Folklore Archives, die länderübergreifend verknüpft werden. Zunächst geht es um den Bereich geglaubter Ausdrucksformen, besonders von Sagen und sagenähnlichen Erzählungen („belief legends“). Klassische Ansätze zur Motivforschung werden durch die Einbeziehung von kommunikativen Kontexten und Raumbezügen einer neuen Betrachtungsweise unterzogen. Erprobt werden innovative Methoden der Typisierung von „belief legends“, die auch gegenwärtige Erscheinungsformen einschließen. Zugleich bildet das Projekt den Auftakt, für Folklorearchive eine internationale virtuelle Umgebung zu schaffen, der sich später andere Länder anschließen werden.
Insofern handelt es sich um ein wegweisendes internationales Projekt im Bereich der „e-Humanities“, das die Zusammenarbeit von Geisteswissenschaftlern mit der Informatik erfordert. Die „Digging into Data Challenge“ soll speziell Big-Data-Technologien für die Geisteswissenschaften öffnen. Hierbei arbeiten Ethnologen, volkskundliche Erzählforscher, Folkloristen, Linguisten und Literaturwissenschaftler nicht nur fächer-, sondern auch länderübergreifend mit Informatikern zusammen.
An der Universität Rostock ist dies eine Forschergruppe um Dr. Christoph Schmitt vom Institut für Volkskunde und Dr.-Ing. Holger Meyer vom Lehrstuhl für Datenbank- und Informationssysteme, die ihre Erfahrungen, Methoden und Techniken aus einem anderen Großprojekt, dem Aufbau des digitalen Archivs WossiDiA, einbringen und weiter entwickeln. In ISEBEL sollen die Erzählüberlieferungen Wossidlos, die Sammlung des Dänen Evald Tang Kristensen in der „Dansk Folkemindesamling“ und die „Nederlandse Volksverhalenbank“ verglichen werden.
Interessant an allen drei Sammlungen ist, dass sie im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und mit Mitteln und Methoden der sich zu dieser Zeit erst etablierenden Feldforschung aufgezeichnet wurden. Dies erlaubt eine vergleichende Untersuchung zur Produktion ethnografischen Wissens, wie mündliche Überlieferungen aufgezeichnet, klassifiziert und wie in Umlauf gebracht wurden.
Wie und von wem werden Informationen weitergegeben? Wie werden sie beim Zuhörenden zu persönlichem und in der Menge zu kollektivem Wissen? Das sind Fragestellungen, die auch heute im Zeitalter der „Fake news“ und sozialen Netzwerke brisant sind. Welchen Einfluss haben die soziale Stellung, die Bildung, der Beruf, das familiäre Umfeld oder die benutzte Sprache? Beispielsweise war bei Richard Wossidlo Niederdeutsch ein wesentlicher Aspekt der Überlieferung. Wie beeinflussen Erzählerinnen und Erzähler ihr Publikum? All dies hat Auswirkungen darauf, wie sich Gewissheit über Gesagtes herausbildet. Um solche Fragestellungen beantworten und die unterliegenden Abläufe besser verstehen zu können, wird ein Informationssystem aufgebaut, das die Inhalte und Strukturen der drei international bedeutsamen Sammlungen verknüpft und eine Suche nach wiederkehrenden Inhalten, Mustern und Strukturen erlaubt. Dazu wird ein von den Rostocker Informatikern entwickeltes Hypergraph-Datenbanksystem herangezogen, das schon im digitalen Wossidlo-Archiv WossiDiA und seinen hochgradig vernetzen Strukturen erfolgreich eingesetzt wurde.
Transatlantische Plattform, Digging into Data Challenge
Die transatlantische Plattform ist ein Zusammenschluss von Forschungsförderern in Amerika und Europa, die transnationale Projekte in den Sozial- und Geisteswissenschaften fördern will. Der deutsche Partner in dieser Plattform ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).
In vier Förderrunden wurden in den letzten Jahren Projekte gefördert, die Big-Data-Technologien in den Sozial- und Geisteswissenschaften nutzbar machen sollen. Diese Förderlinie wurde als „Digging into Data Challenge“ bezeichnet. Transatlantische Forschungsgruppen konnten sich in dieser „Challenge“ bewerben. Erst in der aktuellen, vierten Runde ist Deutschland an der Förderung beteiligt. Von den jetzt bewilligten 14 Forschungsprojekten starteten sieben mit deutscher Beteiligung. Die deutschen Forschungspartner bei den sieben Projekten kommen aus Frankfurt, Stuttgart, Mannheim, Potsdam, Weimar und Rostock.
https://diggingintodata.org/awards/2016/news/winners-round-four-t-ap-digging-data-challenge
e-Humanities
e-Humanities ist ein neues, interdisziplinäres Forschungsgebiet, in dem Fragestellungen aus den Geisteswissenschaften mit modernen Informatikmethoden gelöst werden sollen. Im Bereich der „Digging into Data Challenge“ sind dies beispielsweise Technologien, die im Bereich der Analyse von „Big Data“ auch von Google, Amazon und Facebook eingesetzt werden.
Universität Rostock
Die Universität Rostock wurde 1419 gegründet. Sie ist die älteste Universität im Ostseeraum und die drittälteste Deutschlands. An neun Fakultäten werden für derzeit 14.000 Studierende 100 Studienrichtungen angeboten. Forschungsschwerpunkte sind u.a. Alternative Energien, Assistenzsysteme, Biomedizinische Technik, Laser-Optik, Lebenswissenschaften und Regenerative Medizin. In der Profillinie „Wissen – Kultur - Transformation“ wird ein interdisziplinärer Forschungsschwerpunkt betrieben, der beispielsweise Methoden der Geisteswissenschaften und Informatik miteinander verknüpft.
Institut für Volkskunde
Das Institut für Volkskunde war von 1954 bis 1991 eine Forschungsstelle der Berliner Akademie der Wissenschaften. Hervorgegangen ist es aus dem Nachlass Richard Wossidlos (1859-1939), einem der Gründungsväter der deutschsprachigen Volkskunde. Mit der Neustrukturierung der Wissenschaftslandschaft wurde die Einrichtung in die Philosophische Fakultät der Universität Rostock integriert. Neben Forschung und Lehre im Fach Volkskunde/Europäische Ethnologie betreut das Institut das Wossidlo-Archiv. Ein zentraler Forschungsschwerpunkt ist die historische und vergleichende, moderne Medien einbeziehende Erzählforschung. Über das Projekt „WossiDiA“ entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit mit dem Institut für Informatik.
Institut für Informatik
Das Institut für Informatik der Universität befindet sich im neuen Konrad-Zuse-Haus in der Rostocker Südstadt. Derzeit forschen und lehren 15 Professorinnen und Professoren sowie etwa 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (davon 50 aus Drittmitteln finanzierte) für etwa 500 Studentinnen und Studenten aus den Studiengängen Informatik, Wirtschaftsinformatik und Informationstechnik / Technische Informatik. Am Lehrstuhl Datenbank- und Informationssysteme forschen innerhalb des Instituts Prof. Dr. Andreas Heuer und Dr.-Ing. Holger Meyer. Ein Forschungsschwerpunkt des Lehrstuhls ist das Gebiet der Digitalen Bibliotheken und Archive. Grundlage für die Darstellung von Dokumenten und Zusammenhängen zwischen Dokumenten in einem Informationssystem sind sogenannte Hypergraphmodelle, für die die Rostocker Informatiker Spezialisten sind.
Das WossiDiA-Projekt und das ISEBEL-Projekt
Gegenstand von WossiDiA ist die vollständige digitale Transformation der umfangreichen volkskundlichen Sammlung Richard Wossidlos und ihre Sichtbarmachung per Internet (über zwei Millionen Digitalisate zumeist handschriftlicher Quellen). Ein Schwerpunkt der Sammlung des mecklenburgischen Gymnasialprofessors und volkskundlichen Privatgelehrten Richard Wossidlo, den die Universität Rostock aufgrund seiner Verdienste zum Ehrensenator ernannte, bilden Erzählüberlieferungen.
Wossidlos Sammlung eignet sich bezüglich ihrer Dimension und Aussagekraft sehr gut für einen Vergleich mit der Sammlung des Dänen Evald Tang Kristensen (1843-1929), die zu den Kronjuwelen der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen und ihrer „Dansk Folkemindesamling“ zählt. Sie wird von Prof. Dr. Timothy R. Tangherlini erforscht, der an der Skandinavischen Sektion der Universität von Kalifornien in Los Angeles „folklore, literature and cultural studies“ unterrichtet.
In sprachlicher Hinsicht ist die „Nederlandse Volksverhalenbank“ vergleichbar, die Prof. Dr. Theo Meder, ein weiterer Pionier der „Computational Folkloristics“, am Meertens Instituut in Amsterdam aufgebaut hat. Diese Sammlung bezieht neben der älteren Überlieferung auch jüngere Erzählungen (vor allem des Internets) mit ein.
Im Projekt ISEBEL sollen diese drei Sammlungen miteinander verglichen werden.
Kontakt:
Prof. Dr. Andreas Heuer,
Leiter der Kommission Öffentlichkeitsarbeit am Institut für Informatik der Universität Rostock
Tel: 0381-498-7590
Fax: 0381-498-7592
E-Mail: andreas.heueruni-rostockde
Kontakt speziell für das ISEBEL-Projekt:
Dr. Christoph Schmitt
Institut für Volkskunde
Universität Rostock
Tel: 0381-498-1051
E-Mail: christoph.schmittuni-rostockde
Dr.-Ing. Holger Meyer
Lehrstuhl Datenbank- und Informationssysteme
Institut für Informatik
Universität Rostock
Tel: 0381-498-7597
E-Mail: holger.meyeruni-rostockde